Samstag, 19. April 2014

Das letzte Abendmahl - Da Vinci und Salvador Dali



Bildbesprechung und Vergleich in "Ich fand den Heiligen Gral"

Virgen de consolacion - Schlüsselfigur von "CRUOR"

CON MOTIVO DE LAS FIESTAS PATRONALES EN HONOR A LA VIRGEN DE CONSOLACIÓN Y A SAN BLAS
ESTA TARDE SE REALIZARÁ A LAS 19:00h. LA "VOTADA DE LA VIRGEN" EN EL SALÓN CONSISTORIAL DEL ANTIGUO AYUNTAMIENTO (TORRE DE LA ALJAMA) Y PASACALLES DE LOS VECINOS ATAVIADOS CON LA INDUMENTARIA TRADICIONAL

Samstag, 5. April 2014

Die Einvernahme

Die Einvernahme 


"Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt." 


Der Raum war leer. Entlang der Seiten standen schwarze Plastikstühle. Durch das Glas der Oberfenster drang das Licht der Morgendämmerung. Die Digitaluhr an der Wand zeigte 08.14.00. Felix fror. 

Als die Uhr auf 08.15.00 wechselte, wurde die Tür zum Warteraum geöffnet. Ein älterer Mann mit kurzem Haar betrat das Zimmer. 
„Herr Rott?“, schnarrte er Richtung Felix. 
„Jawohl, der bin ich“, beeilte sich Felix mit seiner Antwort. 
„Bitte folgt mir.“ 
Sie durchquerten lange Korridore, belegt mit grauem Nadelfilz. In den Gängen reihte sich Eingangstüre an Eingangstüre. 
Felix ging hinter dem wuchtigen Rückens seines Vordermannes. Irgendwo blieb dieser stehen und deutete auf einen Stuhl, der bei einem Pult im Raum direkt vor ihm stand. Die Tür war halb geöffnet. 
„Setzen Sie sich auf diesen Stuhl!“, herrschte ihn der Mann an. Als er auf den geheißenen Platz zusteuerte, hörte er hinter sich das Knallen von Metallzargen. Die Welt war ausgeschlossen. 

„Mein Name ist Vogt, ich leite die Ermittlungen im Fall Schwander.“ 

Der Beamte blieb am Tisch stehen und reichte ihm ein Blatt Papier in einer Plastikhülle. Auf dem Zettel waren einige Zeilen Text zu sehen. 
„Das Schreiben informiert Sie über Ihre Rechte. Lesen Sie es genau durch.“ 
Kommissar Vogt setzte sich ihm gegenüber, nahm das oberste Blatt Papier von einem säuberlich geordneten Stapel. Die Unterlagen mussten vorgedruckt sein, Herr Vogt schrieb Zeile um Zeile auf Linien und in Rasterflächen. 
Er las schnell und unkonzentriert. Schließlich lies er das Informationsblatt sinken. 
Sofort hielt der Beamte Vogt inne und blickte hoch. 
„Haben Sie den Inhalt des Textes verstanden? Sind Sie damit hinreichend über Ihr Recht informiert?“ 
Er nickte. 
„Entsprechend den Regeln dürfen Sie die Aussage verweigern, wenn Sie sich damit selber belasten würden.“ 
Er nickte erneut. 

„Ihr Name ist also Felix? Sind Sie Felix Rott?“ 

„Ja, der bin ich.“ 
„Und Sie wohnen an der Seedammstrasse 48?“ 
„Ja, dort wohne ich“ 
„Herr Rott, wissen Sie, warum Sie hier sind?“ 
Diese Frage beschäftigte ihn, seit er die Vorladung erhalten hatte. Er wusste keine Antwort. 
„Nein, das weiß ich nicht“, antwortete er. „Was wird mir vorgeworfen?“ 
„Das ist Gegenstand der Ermittlungen und kann jetzt noch nicht gesagt werden. Um das herauszufinden, sind Sie hier.“ 
„Um was geht es in dieser Ermittlung?“ 
„Ich stelle hier die Fragen, Herr Rott. Im Übrigen brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Wenn Sie die Gesetze nicht übertreten haben, dann gibt es keinen Grund zur Beunruhigung. Haben Sie das, Herr Rott? Haben Sie die Gesetze nicht übertreten?“ 
Die Art des Beamten machte ihn unruhig. 
„Ich glaube, dass ich unschuldig bin.“ 
„Ja, glauben Sie das, oder wissen Sie das?“ 
„Ich bin unschuldig“, beeilte sich zu sagen. 
„Das sagen alle, Herr Rott. Bis wir sie überführt haben. Unsere Gefängnisse sind voll von Unschuldigen. Gehören auch Sie zu dieser Art von Unschuldslämmern?“ 
Er wurde nervöser. 
„Hören Sie Herr Vogt, ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Ich habe keine Ahnung warum ich hier bin und ob ich unschuldig bin. Ich weiß gar nichts. Ich bin ein einfacher Bürger, der sein Leben und seine Freiheit liebt.“ 
„Frei macht nur das Gesetz, Herr Rott. Und Sie sagten mir eben, dass Sie nicht wissen, ob Sie vor dem Gesetz unschuldig sind?“ 
„Ich habe gesagt, ich würde nichts wissen. Auch nicht, ob ich schuldig oder unschuldig sei. Spielt das für Ihre Ermittlung eine Rolle? Meine potentielle Schuld oder meine geheuchelte Unschuld? Warum sagen Sie nicht klar und deutlich, was Sache ist?“ 
Er spürte, wie Zorn und Verzweiflung in ihm hochstiegen. Sein Gesicht musste rot sein. Herr Vogt starrte ihm mit dem Blick eines wartenden Lämmergeiers in die Augen. Er senkte die Lider. 
„Ob das eine Rolle spielt, fragen Sie? Auf jeden Fall hat diesen Raum noch niemand als freier Mensch verlassen, der mir gesagt hat, er sei schuldig. Ich würde mir das durch den Kopf gehen lassen.“ 
Er verlor die Fassung: 
„Ja was glauben Sie denn, was ich mache? Sie implizieren mir die ganze Zeit irgendeine Schuld, ich habe keine Ahnung um was es geht und...“ 

„Frau Schwander. Kennen Sie eine Frau Schwander?“ 

Der Beamte überrumpelte ihn mit der Frage. 
„Schwander? Ja, ich kenne eine Frau Schwander.“ 
„Eine Irene Schwander?“ 
„Ich Weiß nicht, ob sie Irene heißt.“ 
„Sind Sie verheiratet, Herr Rott?“ 
Die Fragerei quälte ihn. Worauf wollte der Beamte hinaus? 
„Ich bin nicht verheiratet. Ich lebe aber in einer Beziehung.“ 
„Mit einer Frau Metz, wie ich das den Unterlagen entnehme. Frau Metz ist verheiratet, nicht wahr?“ 
„Ja, sie ist verheiratet. Aber nicht mit mir. Sie und Herr Metz leben in Trennung.“ 
„Aha“, die Bestätigung des Beamten klang wie ein Fallbeil. 
„Kinder?“ 
„Frau Metz hat zwei.“ 
„Aha“, wieder die Guillotine. 
„Wann haben sie Frau Schwander zum letzten Mal gesehen?“ 
„Ich kenne Frau Schwander nicht.“ 
„Eben haben Sie gesagt, Sie würden Frau Schwander kennen.“ 
Er fing an zu schwitzen. 
„Ja, eine Frau Schwander. Aber nicht Ihre Frau Schwander. Ich kenne Ihre Frau Schwander nicht.“ 
„Wie wollen Sie das so genau wissen? Würden Sie ein Bild erkennen, das ich Ihnen von der Frau zeige?“ 
Seine Gedanken jagten sich. Um was ging es hier? War das Mädchen im Bus der Grund für dieses Dilemma? Er hatte sich zwei- drei Mal mit ihr unterhalten. Er fand sie hübsch und freute sich, wenn er sie am Morgen im Bus sah. Seine Freundin würde ihm den Kopf abreißen, wenn er in irgend einen blöden Zusammenhang mit diesem Mädchen... 
Ruhe! Er zwang sich, ruhiger zu werden. Der Gedanke war lächerlich. Er redete mit ihr. Das war alles. Während der Fahrt zur Arbeit. Trotzdem spürte er Schweiß auf der Stirn. 
„Wenn ich sie nicht kenne, kann ich auch das Bild von ihr nicht identifizieren.“ 
Herr Vogt reichte ihm ein Papiertaschentuch. 
„Wie wollen Sie das wissen, wenn sie das Bild noch nicht gesehen haben?“ 
Er wischte sich mit dem Papier über die feuchte Stirn. Dann antwortete er. Er sprach leise. 
„Dann zeigen Sie mir bitte das Bild. Vielleicht erkenne ich die Frau.“ 
Kommissar Vogt reichte ihm eine Bildpalette mit verschiedenen Frauenportraits. Kein Gesicht schien ihm familiär. 
„Nein“, sagte er wahrheitsgemäß. „Ich kenne keine der Frauen.“ 
Herr Vogt notierte etwas. Ohne den Kopf zu heben fragte er: 
„Wo waren Sie letzten Freitag?“ 

Mist, durchzuckte es seinen Kopf. Ausgerechnet Freitag. 

„Ich war an einer Geschäftssitzung...“ 
Er machte eine Pause und überlegte. 
„Nein, ich war an keiner Geschäftssitzung. Ich war im Spielcasino in Evian.“   
„Geschäftssitzung, Spielcasino, wo waren Sie wirklich, Herr Rott?“ 
„Im Spielcasino“ 
„Warum haben Sie zuerst gesagt, Sie wären an einer Geschäftssitzung gewesen?“ 
„Ich brauche diese Ausrede immer gegenüber meiner Freundin. Wir müssen ein wenig auf das Geld achten und sie hasst es, wenn ich spielen gehe.“ 
Der Blick von Herrn Vogt war kalt. 
„Ausrede oder Lüge, Herr Rott? Ausrede oder Lüge? Wenn Sie schon auf das Geld achten müssen, wie Sie soeben sagten, woher stammen die Finanzen für Ihre Spielerei, Herr Rott? Oder gehören Sie zu den Gewinnern? Sind Sie einer, der gewinnt, Herr Rott?“ 
Wieder durchzuckten ihn heiß- kalte Blitze. Das Geld. Die Nebeneinnahmen für Web-Seiten. Gelegenheitsaufträge. Spielereien eines Informatikers, halt. Nicht deklariert. Pause, schrie es in ihm. Einige hundert Euro, ab und zu. Sonst nichts. Keine kriminelle Tätigkeit. Bestenfalls Steuerbetrug. 
„Ich arbeite hier und da in Nebenjobs“, sagte er leise. 
„Dann schreibe ich: Arbeit, hier und da. Ist das richtig so?“ 
„Ja.“ 
„Aha.“ 

Es folgte eine lange Pause. Felix wusste nicht, was er denken sollte. Er wollte keine Probleme und doch fühlte er, wie sich Schuld um seine Füße rankte. Herr Vogt brach das Schweigen: 

„Herr Rott Sie sagen mir, dass Sie ihre Freundin belügen, wenn Sie ein Casino besuchen. Sie gehören also zu den Menschen, die eine Notlüge einsetzen, wenn sie Nutzen daraus ziehen können?“ 
„Aber das ist doch ganz...“ 
Der Beamte unterbrach ihn scharf. 
„Sind Sie ein Lügner, Herr Rott?“ 
„Nein... ich meine, ja. So bin ich halt ein Lügner.“ 
„Dann könnten Sie auch hier lügen, wenn Sie das für nötig erachten würden?“ 
Er schüttelte nur noch den Kopf, sagte aber nichts mehr. 
„Aha“, registrierte Kommissar Vogt sein Schweigen. 
Er fühlte sich elend. Was für ein Schlamassel. Und den Grund für die Ausfragerei kannte er immer noch nicht. 
Herr Vogt hörte mit schreiben auf. Er blickte hoch. 
„Ich sage Ihnen jetzt, was wir machen werden, Herr Rott. Sie bleiben einen Moment hier. Bis wir Ihr Aussagen überprüft haben.“ 
Er fuhr auf: 
„Was heißt: Sie bleiben hier? Wollen Sie mich festnehmen? Dazu haben Sie überhaupt kein Recht.“ 
„Herr Rott, überlassen Sie dieses Urteil mir. Ich weiß genau, welche Möglichkeiten ich habe. Sie verstricken sich von Anfang an in Widersprüche, machen unbefriedigende Angaben über Ihre Finanzen, führen einen undurchsichtigen Lebenswandel und belegen mir nicht glaubhaft, dass es zwischen ihnen und dem Fall Schwander keinen Zusammenhang gibt. Um Ihren Fall zu überprüfen, werden wir mindestens mit Ihrer Lebenspartnerin reden müssen. Zudem fordern wir über die Staatsanwaltschaft Einblick in Ihre Bankverbindungen. Bis das gemacht ist, bleiben Sie in Untersuchungshaft.“ 
Er hatte das Gefühl, als würde sich der Boden unter ihm öffnen. 
„Das können Sie doch nicht machen. Ich verlange einen Anwalt. Sie...“ 
Der Beamte unterbrach ihn: 
„Den können Sie morgen früh anrufen.“ 
„Aber warum? Warum?“ 
„Weil Sie selber Unregelmäßigkeiten in Ihrem Finanzhaushalt angeben, Notlügen gebrauchen und deshalb zu einem Verdächtigen werden.“ 
„Das ist doch absurd. Das macht jeder. Deswegen müssen nicht alle in den Knast.“ 
„Sie müssen nicht in den Knast. Sie bleiben ein- zwei Tage hier. Bis wir Ihre Angaben überprüft haben. Wenn Sie die Wahrheit sagten, brauchen Sie nichts zu fürchten.“ 
„Mein Gott, dann lassen Sie wenigstens meine Freundin in Ruhe. Sie wird das nicht einfach wegstecken.“ 
Herr Vogt sprach ruhig und langsam: 
„Wie Sie Ihr Privatleben meistern, geht uns nichts an. Solange keine Straftat im Spiel steht. Sie müssen mit Ihrer Freundin klar kommen und wir müssen Gesetzesbrecher überführen. So sind nun mal die Rollen verteilt.“ 
Zorn und Kraft verließen ihn. 
 „Mein Gott. Ich weiß ja nicht einmal, um was es geht. Ich bin unschuldig.“ 
„Das wird erst die Untersuchung zeigen, Herr Rott. Erst die Untersuchung.“ 

ENDE


Herbert Blaser

Kultur in Allerseelen

Kultur in Allerseelen
An einem Freitagabend im November vergangenen Jahres haben sich die Kulturinteressierten von Allerseelen im Hotel „Zu den drei Königen“ versammelt, um Ratnovskis Premiere beizuwohnen. Er ließ im ganzen Hotel spielen, im Innenhof und auf dem Parkplatz. Das Publikum folgte den Szenen um und durchs Gebäude. Die Truppe versuchte sich an Dürrenmatts ‚Besuch der alten Dame’ und Güllen war plötzlich überall, stand der Prunk des Vorzeigehotels im Gegensatz zu den bisherigen Produktionen des Impresarios. Ein Beobachter konnte sich zur Meinung gedrängt  sehen, der ausgefallene Aufführungsort würde nur dem Standortmarketing dienen. Nicht der künstlerischen Notwendigkeit. Tatsächlich war das Luxushotel Hauptsponsor der Inszenierung. Eine Gazette titelte im Voraus: ‚Ausverkauf der Kultur – Der Große Kniefall des Ratnovski’. 
Und tatsächlich wusste man in der Szene, dass der alte Mann des Theaters nicht mehr gut bei Kasse war und in Allerseelen wurden dies und das gemunkelt. Zudem konnten alle bestätigen, dass Kunst und Geld in einer schwierigen Beziehung zueinander standen und mit den Finanzen oft auch die guten Ideen ausgingen. Nichts desto Trotz feierte man die Aufführung und nach dem letzten Applaus trafen sich die Gäste, die Presse und Ratnvoskis Truppe im dekorierten Foyer. Silbergedeck und Kristallleuchter funkelten um die Wette. 
„Er ist ein schlauer Fuchs“, wusste Hans Krömer zu berichten. Sein Gegenüber mochte von einem Lokalblatt gesandt worden sein, jedenfalls machte er sich Notizen. „Er hat immer einen nächsten Plan und verblüfft uns mit seinen Ideen. Ich bin stolz und glücklich, dass er mich für seine Inszenierungen auswählt.“ Hans Krömer hatte eben noch Alfred Ill gespielt, nun bestätigte er dem Schreiberling wortreich, dass er das auch gerne getan habe. 
„Ist er nicht schwer verschuldet?“, fragte der Pressemensch platt. 
„Und wenn auch“, lachte Krömer. „Wir kriegen unsere Gage meistens rechtzeitig und Probleme hat er nur mit Institutionen. Er ist eben durch und durch Theatermann. Er gibt nie auf. Ich spiele seit zwanzig Jahren immer wieder für ihn und weiss, wie er tickt. Er ist ganz wunderbar. Auf der alten Bühne hatte wir keine Zuschauer mehr; aber hier im Hotel sieht es schon wieder anders aus!“ 

„Dass er sich nicht mit einfacheren Inszenierungen begnügen kann!“, tönte eine Frauenstimme an dem metallverzierten Tresen der Bar. „Weniger wäre mehr, sage ich immer wieder.“ Es war die Frau des Kulturbeauftragten, die so sprach. Sie führte das Champagnerglas zum Mund und nippte. Ihre Kolleginnen lächelten. Und nickten bestätigend. „Ihm fehlt das Talent zum Großen. Ratnovski will immer zu viel.“ 
„Das ist mir auch aufgefallen“, bestätigte eine Frau mit Zobeljacke. „ Und jetzt dieses Projekt auf dem Messegelände, habt ihr davon gelesen? Mein Mann will nicht darüber reden, obwohl er im Verwaltungsrat sitzt! Der Fantast ließ für das Musical eine ganze Halle umbauen. Bühne, Licht- und Tonanlagen,  Zuschauerränge – einfach alles.“ 
„Ich sage schlicht, ihm ist das Theater in den Kopf gestiegen. Basta.“ Die Wortführerin nippte wieder am Glas und die schweren Goldarmreife klapperten wie Messing. „Trotzdem ist es wichtig, solche Menschen zu unterstützen. Kleinkunst ist der Boden etablierter Künste, sagt mein Mann immer. Aber Ratnovski steuert seine Schauspieler aufs Sozialamt. Das Vertrauen im städtischen Kulturfonds sei dahin, sagt mein Mann. Das ist leider wahr. Aber uns persönlich spielt das keine Rolle und  wir sehen uns seine Aufführungen gerne an. Geld darf bei Kultur keine Rolle spielen, sagt mein Mann immer. Sonst ist sie tot!“ 
Wieder redete die Zobeljacke: „ Mir hat der Schauspieler Krömer persönlich erzählt, wie schlimm es um die Gagen stehen würde. Der Vollzugsbeamte wird bald herbeigezogen, sage ich. Trotzdem – die Aufführung war gut! Und das Hotel ist einfach wundervoll!“ Die Bestätigungen aus der Frauenrunde klangen wie das Gurren von Tauben. 

Zwei Wochen später telefonierte der Messeleiter mit dem Kulturbeauftragten: 
„Klaus, ich habe mit den Amerikanern gesprochen und wir werden uns einig.“ 
„Wie sieht eure Einigung aus?“ 
„Allerseelen wird Ratnovski keine Bewilligung für das Phantom geben, wenn er nicht zuerst die ausstehenden Schulden aus den Billettsteuern bezahlt. Das sind immerhin 300'000 Euro. Er hat seit Jahren nicht abgerechnet. Die Company sagt, dass sie Ratnovskis Vertrag künden und damit unsere direkten Partner werden. Das hat für die sogar den Vorteil, dass sie seine Gewinnbeteiligung nicht mehr auszahlen müssen. Die Premiere des Phantoms kann so termingerecht über die Bühne gehen und der Schaden wäre behoben.“ 
„ In Gottes Namen, ich sehe auch keine andere Möglichkeit. Ratnovski hat es sich selber verscherzt. Ich habe ihm oft genug gesagt, wie wichtig diese Billettsteuer sei und dass er die Forderungen ernst nehmen soll. Nun gut, es wird ihm eine Lehre sein. Seine nächste Inszenierung kann dann wieder auf einer normalen Bühne stattfinden. Meine Frau fand ‚Den Besuch der alten Dame’ gut, sagte aber, die Stimmung im Hotel hätte nicht zur Aufmachung des Stücks gepasst. Fünf Sterne und Dürrenmatts Sozialkritik würden nicht einwandfrei zusammen harmonieren. Man solle diese Gesellschaftsgrössen nicht mischen. Ich weiss auch nicht, was ihn treibt.“ 
 „Meine Frau erzählte mir am nächsten Morgen, der Höhepunkt des Abends wäre die Bar gewesen.“ 

Dann, in einer Dezembernacht, stapfte eine Gestalt auf dem Schotter der Bahngleise von Allerseelen Richtung Irgendwo. Schneeflocken stiebten. Der Lokomotivführer gab später zu Protokoll, dass eine Gestalt quer über die Gleise gestolpert sei und er nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Ratnovskis Körper fand man zerschmettert im Bahngraben. 

„Vielleicht hat er sich verlaufen. Vermutlich war er auf einem seiner Spaziergänge. Wenn er Selbstmord begehen wollte, wäre er doch nicht quer über die Gleise gegangen“, mutmaßte die Frau vom Kulturbeauftragten. Die Zeitung sprach vom unfassbaren Tod des größten Talents, welches Allerseelen hervorgebracht habe. Ein wahrer Künstler und Sohn der Stadt sei dahingeschieden. Warum, das sei allerdings ein Rätsel. Der Verwaltungspräsident des Messegeländes gab in einem Interview bekannt, dass sie eine Lösung für das Problem mit dem Musical „Das Phantom der Oper“ gefunden hätten und Ratnovski schon vor Wochen beruhigt sein konnte, dass sich der Vorhang öffnen würde.  ‚Warum hast Du uns verlassen?’, fragte der Titel vom Kulturmagazin. 

Im Monat März strich die amerikanische Produzentenfirma die restlichen Aufführungsdaten des ‚Phantoms’. Die Produktion floppte. Um ihren Schaden schmal zu halten, wurden die technischen Anlagen der Musicalhalle abgebaut und weggeschafft. In Allerseelen gab es keinen Vertragspartner mehr, der das Ganze hätte stoppen können. Allerseelen starrte in eine leere Halle und in ein Finanzloch von mehreren Millionen Euros. Messeverwaltung und Kulturfonds schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu, schlussendlich einigte sich die Stadtpolitik darauf, dass sie die Halle wieder herrichten und mit Gastproduktionen beleben wollte. Im gleichen Zug machte der Chef des Kulturfonds den Vorstoß, endlich das veraltete Gesetz über die verhasste Billettsteuer abzuschaffen, weil sie den Kulturbetrieb unnötig belasten würde. 
  
An der Einweihungsfeier für die neue Mehrzweckhalle mit Bühne hielt der Kulturbeauftragte eine Rede: „Wir freuen uns heute, dass Allerseelen der Kunst ein neues Haus schenken kann. Um so mehr, als dass Kunst das Elixier ist, welches den Menschen hinter den Grund der Dinge blicken lässt, ihn transformiert, aus ihm einen besseren, zivilisierteren Menschen macht. Kunst konzentriert sich nicht auf die pekuniäre Ebene, Kunst fordert von seinen Machern Selbstaufgabe und Arbeit, damit sie sich erschließen kann. Kein Geringerer  als der von uns gegangene Ratnovsky hat den Grundstein für diesen Tag gelegt und wir freuen uns gemeinsam über das gelungene Werk.“


Herbert Blaser